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Über die Kunst, ein Musikalbum zu hören

Meine prägendste Zeit, was meine Wertschätzung von und Einstellung zur Musik betrifft, war definitiv mein Studium. Dort lernte ich, wie wichtig es ist, ein Musikalbum ganz zu hören.

Aber von vorne. Ich habe Musik immer geliebt, und mir als Teenager halb erfolgreich das Spielen mehrerer Instrumente beigebracht. Ich schreibe eigene Lieder, die es nie auf eine CD schaffen werden, und habe meine Jugendzeit damit verbracht, exzessiv die Musik der Kelly Family zu hören

Die Ära der Best Of-Alben

Davon abgesehen bestand meine CD-Sammlung in erster Linie aus Film-Soundtracks, Best-Of Alben und dem, was meine Eltern so hörten. Okay, stimmt nicht so ganz – ich hatte schon viele CDs von Bands, die ich echt mochte, aber von meinen Eltern, besonders meinem Vater, hatte ich folgende Lektion gelernt: Wenn es nicht gerade die Beatles oder David Bowie sind, dann bestehen Alben meiste aus zwei wirklich guten Tracks, und den Rest kann man vergessen. 

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Diese Lektion hatte ich verinnerlicht, was bedeutete, dass ich meine Alben von Lifehouse, den Goo Goo Dolls und Sarah McLachlan zwar hörte, aber meistens nicht über die Single-Auskopplungen hinaus. ((Mit Ausnahme des Albums “Dizzy Up the Girl” der Goo Goo Dolls, das ich bis heute abgöttisch liebe.) Das Zauberwort hieß also “Best of Alben”, die meine Eltern gerne kauften, weil man dann die besten Lieder sozusagen gesammelt hatte. 

Die Kunst, ein Musikalbum zu hören

Der Zufall wollte es, dass ich in meinem Studium auf Kommiliton*innen traf, die das ganz anders sahen. Eine meiner Mitstudierenden, die mir zu einer guten Freundin wurde, war großer Fan der Band R.E.M. Als ich erwähnte, dass ich von denen das Best Of-Album habe, reagierten sie und die Umstehenden zu meiner Überraschung so: “Best-Of? Alben muss man ganz hören.”

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Ich habe in meinem Studium viel über Literaturgeschichte, Altenglisch, Metaebenen und Shakespeare gelernt, aber ich glaube, der prägendste Moment für mich geschah drei Wochen nach Semesteranfang mit genau diesem Satz. Weil ich von da an genau das Tat. Ich begann, Alben ganz zu hören, und mein Leben war nie wieder dasselbe.

Die Entdeckung der Musik als Kunst

Durch meine Kommiliton*innen lernte ich nicht nur viele, großartige Bands kennen, ich lernte auch, dass man ein Musikalbum als Gesamtwerk betrachten muss. Schließlich reißt man bei Autor*innen – in der Regel – ja auch nicht die besten Kapitel aus jedem Buch und verkauft das dann als neues “Best of”-Buch. 

Ich begriff, dass ein gutes Album zwar immer ein paar Tracks hat, die herausstechen, die anderen Stücke aber nicht minder wichtig sind. Sie sind es, die dem Album Rhythmus geben und im besten Fall eine Geschichte. Jedes Album reflektiert eine Zeit, einen Abschnitt im Leben der Künstler*innen, eine musikalische Ära. Und auch auf die Gefahr hin, wie eine Figur aus High Fidelity zu klingen, die Zeit sollte man sich nehmen.

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Vielleicht sind Best Of-Alben ein bisschen symptomatisch für unsere Zeit. Man hat die “guten Lieder” beisammen und muss sich nicht mehr selbst auf die Jagd begeben, den einen Lieblings-Song zu finden. Dabei entgehen einem aber natürlich die Gesamtwerke. Der Zauber von Lana Del Reys schwermütiger Musik entfaltet sich nur über die Dauer eines ganzen Albums, und wer immer noch glaubt, Taylor Swift produziere nur harmlose Pop-Musik, hat sich nie de Mühe gemacht, einmal eines ihrer Alben ganz durchzuhören. Noah and the Whale hatten ihre Musikalben sogar so weit durchkomponiert, dass sich zwischen den einzelnen Tracks mit Gesang immer wieder rein instrumentale Interludien fanden. 

Eine ganz neue Welt

Was natürlich nicht bedeutet, dass ich nicht auch liebendgerne eigene Playlists und einzelne Songs auf Repeat höre. Und manch ein Musikalbum hat eben wirklich nur ein oder zwei Tracks, die einem wirklich gefallen. Das kann man aber nur rausfinden, in dem man sich die Zeit nimmt, so ein Album bewusst ganz durchzuhören. Ich bin jedenfalls sehr dankbar für die Reaktion meiner Mitstudierenden damals. Mir wäre sonst womöglich eine ganze Welt für immer verschlossen geblieben.

Das letzte Album, das ich komplett durchgehört habe, war übrigens “As It Ever Was, So It Will Be Again” von den Decemberists. Es ist großartig. Das nur ganz nebenbei.

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