„Encanto“ (2021)
„Encanto“ also. Ehrlich gesagt, obwohl ich bekennender Disney-Fan bin (Buh-Rufer bitte auf die rechte Seite, danke), war „Encanto“ irgendwie an mir vorbeigerauscht. Den Trailer hatte ich aus unerfindlichen Gründen verpasst, und als der Film dann auf Disney+ auftauchte, steckte ich gerade mitten in einer K-Drama-Serie.
Dementsprechend hatte ich null Ahnung, was mich erwartete, als meine BBF mich dazu drängte, mir „Encanto“ anzusehen. Ich hatte null Ahnung von den Figuren, von der Handlung, vom Setting. Ich kannte nur die Gifs, die besagte BFF mir bei jeder Gelegenheit in unseren Discord-Chat packte.
Also, jetzt bin ich diejenige, die nur noch in „Encanto“-Gifs spricht.
Ein kleines bisschen Magie
Fangen wir von vorne an: „Encanto“ führt die Zuschauer*innen nach Kolumbien zur Familie Madrigal, die in einem magischen Haus wohnt. Das Haus besitzt nicht nur eine eigene Persönlichkeit und Bewusstsein, sondern verleiht auch jedem Kind der Familie ein besonderes Talent. Allen, außer der Protagonistin Maribel.
Maribel leidet darunter, „nur“ sie selbst zu sein und den strengen Anforderungen ihrer Großmutter und Matriarchin nie zu genügen. Dabei ist Maribel eigentlich schon so genug, wie sie ist: Fürsorglich, mutig, loyal und klug. Als Maribel bemerkt, dass die Magie des Hauses langsam zu schwinden scheint, macht sie sich auf die Suche nach der Vergangenheit und einer Möglichkeit, ihr geliebtes Casita zu retten.
Encanto: Disneys vielleicht wichtigster Film
„Encanto“ ist in vielen Belangen ein Film über Familientrauma, das über Generationen hinweg weitergegeben wird. Den Verlust, den Maribels Großmutter in ihrer Jugend erlitten hat, kompensiert sie in ihrem krampfhaften Bemühen, die Familie um jeden Preis zusammenzuhalten.
Meine eigene Großmutter stammte noch aus der Kriegsgeneration, und den Hunger und das Gefühl, heimatlos zu sein, hat sie bis zu ihrem Tod nicht verarbeitet. Sie konnte kein Essen wegwerfen, bewirtete bei jeder Mahlzeit, als sei man zu Gast bei Königs, und Feiertage waren ihr heilig. Die Momente, wenn die Familie zusammenkam. Nichts war ihr so wichtig wie ihre Geschwister, ihre Kinder und Enkel. Streitigkeiten innerhalb der Familie waren für sie unerträglich. Und sehr viel davon wurde auch an uns Kinder weitergegeben.
Maribels Abuela erinnert mich sehr an meine eigene Großmutter. In ihrer Furcht, ihre Familie zu verlieren, vergisst Abuela, ihre Töchter, Nichten, Schwager und Enkelinnen als eigenständige Personen zu sehen und zu akzeptieren. Es ist eine Geschichte, die so überall auf der Welt geschehen ist und gerade geschieht, und darum hat Disney mit „Encanto“ vielleicht seinen wichtigsten Film seit Jahren geliefert.
„All of You“
Aber auch Mirabel muss lernen, zu verstehen: Ihr Großmutter zum Beispiel, ihre tragische Familiengeschichte. Aber auch, dass sie—wie ihre Abuela—ihre eigenen Schwestern nur als deren Begabungen sieht, aber nicht als Menschen mit Wünschen und Träumen. Isabela ist wunderschön und perfekt — was könnte ihr schon fehlen? Und Luisa ist unglaublich stark und wird von allen bewundert — was könnte ihr schon Angst machen? Dabei leiden auch Maribels Schwestern unter dem Druck der Abuela, immer alles richtig zu machen.
Maribel muss feststellen, dass sie nicht die einzige in der Familie ist, die sich unsichtbar vorkommt. Dass selbst die stärkste Person Angst davor haben kann, zu versagen. Es ist eine wunderschöne Botschaft, die „Encanto“ da ganz nebenbei verpackt. Jeder Mensch ist innerlich so viel komplexer als das, was man von außen sieht.
Eine Verbeugung vor Lateinamerikas Autor*innen
Zu guter Letzt ist „Encanto“ aber auch eine Liebeserklärung an den magischen Realismus aus Lateinamerika, und eine Verneigung vor Autor*innen wie Gabriel García Márquez und Isabel Allende. Der fantastische Soundtrack von Lin-Manuel Miranda, der tierisch ins Ohr geht und seit zwei Wochen hier praktisch in Dauerschleife läuft, tut sein Übriges.
„Encanto“ hat sich praktisch augenblicklich mit an die Spitze meiner liebsten Animationsfilme katapultiert, und da wird er höchstwahrscheinlich auch lange, lange Zeit bleiben.