„In 80 Tagen um die Welt“(2022): Einmal quer durchs Empire
„In 80 Tagen um die Welt“ von Jules Vernes war nie ein Stoff, der mich wirklich begeistern konnte. Was, wenn wir drüber nachdenken, schon merkwürdig ist, weil ich so unfassbar gerne durch die Weltgeschichte reise.
Wenn ich so darüber nachdenke, konnte mich ich das Prinzip „Britischer weißer Gentleman kann alles und tut Dinge, hat aber sonst keine Persönlichkeit“ schon als Kind nicht begeistern. Bis heute habe ich nur einen halben Sherlock Holmes-Roman gelesen. Wenn schon eine Adaption von dem Stoff, dann bitte „Elementary“ mit der großartigen Lucy Liu als Watson.
Eine Zufallsbekanntschaft
Insofern hätte ich mir auch die 2022 Neuverfilmung von „In 80 Tagen um die Welt“ nie gegeben, wenn meine BFF nicht darauf rumgeritten hätte, wie gut sie ihr gefalle. Meine bisherigen Berührungspunkte mit der Geschichte beschränkten sich bis dato nur auf die (echt großartige) Zeichentrickserie „Um die Welt mit Willy Fog“. Aber wenn die beste Freundin so liebt fragt, ob man nicht wenigstens mal die erste Folge zusammen gucken könne, was will man machen?
In 80 Tagen um die Welt
Die Geschichte ist altbekannt, aber hier nochmal in aller Kürze: Der Engländer Phileas Fogg wettet um 20.000 Pfund (1872 eine gewaltige Summe), dass er die Welt in 80 Tagen umrunden kann. Begleitet wird er von seinem Diener Jean Passepartout und – in dieser Version – der aufbrausenden Journalistin Abigail Fix.
Liebe auf den ersten Blick
Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis ich in die Serie (und Abigails rote Mütze, die ich ganz sicher noch stricken werden), verliebt war. Was neben David Tennant als Phileas Fogg vor allem daran liegt, dass sich diese Adaption von „In 80 Tagen um die Welt“ sehr viele Freiheiten nimmt und wirklich bemüht ist, das Thema Kolonialismus nicht unter den Teppich zu kehren.
Protagonist Phileas Fogg erlebt in dieser Fassung während seiner Reise immer wieder die Willkür der britischen Kolonialherren gegenüber den Einheimischen. Zum Teil auch am eigenen Leib. Während Phileas am Anfang seines Besuches noch tönt, die Briten hätten den Indern ja wohl viel Gutes gebracht, scheint er zum Ende der Reise wenn auch nicht geläutert, dann doch definitiv sensibilisiert.
Von Verrätern und verletzten Egos
Nichtzuletzt, da er erfahren muss, dass ausgerechnet sein Schulfreund Bellamyhochverschuldet ist und systematisch versucht, die Reise zu sabotieren, um die Wette zu gewinnen. Bellamy und Fortescue – Abigails Vater – geben dem verstaubten Gentleman’s Club dabei ein Gesicht und repräsentieren die „dunklere“ Seite der britischen Oberschicht. Bellamy, der seinen Bankrott nicht öffentlich eingestehen kann, da er sonst für immer in der High Society unten durch ist. Und Abigails Vater Fortescue, der einst aus purem verletztem Ego den Ruf einer Frau völlig ruinierte und sie so von ihrer Familie entzweite.
Phileas‘ Reise in dieser Adaption ist damit auch eine Reise zu sich selbst: David Tennant’s Fogg ist ein introvertierter, schüchterner Mann, der außer dein eigenen vier Wänden und seinem Klub kaum etwas sieht. In der Gesellschaft seiner alten Schulkameraden fühlt er sich sicher, selbst wenn diese ihn verhöhnen und schlecht behandeln. Erst durch die Erfahrungen, die Phileas während der Reise macht und durch die echte Freundschaft, die sich zwischen ihm, Jean und Abigail entwickelt, findet er den Mut, für sich selbst einzustehen.
(Ja, es gibt ein Found Family-Trope und ja, ich liebe es und OMG angeblich wird es eine zweite Staffel geben.)
Echte Figuren mit echter Persönlichkeit
Aber auch die beiden anderen Figuren des Trios werden nicht vergessen. So bekommt Jean Passepartout eine zwielichtige Vergangenheit, mit der er sehr zu kämpfen hat. Zudem kann er Phileas Fogg als Galionsfigur der weißen britischen Oberschicht zunächst nicht viel abgewinnen. Schön ist, dass die Rolle des Passepartout in dieser Adaption von „In 80 Tagen um die Welt“ an den schwarzen Schauspieler Ibrahim Koma ging. Koma verleiht der Figur sehr viele Charme und Straßenschläue, und macht sie ziemlich badass.
(Ob man nun aufgrund der Hautfarbe des Schauspielers zwangsläufig das Thema Rassismus hätte verarbeiten müssen … vermutlich nicht. Es gibt genug Beispiele aus historischen Filmen/Romanen/Serien, die ohne auskommen. Wie immer gilt: Das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint. Gott sei Dank beschränken sich diese Plot-Elemente nur auf eine Folge, und kommen nur im Staffelfinale nochmal kurz zur Sprache.)
Wir lieben Abigail
Highlight der Serie war für mich die angehende Journalistin Abigail Fix, die ich samt ihrer Garderobe sofort heiraten würde. Abigail ist gerade heraus, ehrgeizig und eigensinnig. Lange Zeit denkt sie nur daran, wie sie die Reise zum Vorantreiben ihrer Karriere nutzen kann, ohne dabei zu begreifen, wieviel Macht Worte haben können.
Wie sich diese drei völlig verschiedenen Figuren im Laufe von acht Folgen zusammenraufen und zu einer kleinen Familie zusammenwachsen, macht den Charme dieser Serienadaption aus. Von mir aus hätten die drei auch in 14 Tagen einmal entlang der Ostsee reisen können, wenn die Figurendynamik dieselbe geblieben wäre.
Inwiefern man der Serie gewisse Klischees bei der Darstellung der Länder des britischen Empire in 1872 verzeihen möchte, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich bin mir sicher, dass die Serie was das betrifft, mehrmals ins Klo gegriffen hat (was mir als weiße Mitteleuropäerin vermutlich einfach nicht aufgefallen ist).
Keine perfekte Serie also, bei weitem nicht. Aber eine, die Spaß macht, wenn man gewisse Sachen ausblenden kann. Die Figuren zumindest wachsen einem praktisch sofort ans Herz.
Und erwähnte ich schon Abigails Garderobe?